von Brigitte van Hattem
In vielen Orten Mitteleuropas wurde früher im Mittelpunkt des Dorfs eine Linde aufgestellt. Hier traf man sich, klatschte, tratschte oder hielt sogar Gericht. Wenn im Mai die Linden blühten, wurden darunter allerlei Tanzfeste arrangiert - zur Brautschau ganz ohne Internet.
Auch im pfälzischen Kandel wurde 1871 am Ende des Deutsch-Französischen Kriegs eine Linde auf dem sogenannten Plätzel gepflanzt, die den Frieden besiegeln sollte. Als Dorfmittelpunkt wurde sie liebevoll von einer Holzbank umrahmt. Die Linde wuchs prächtig in Höhe und Breite, spendete Schatten und Freude durch ihre Pracht.
Ob das den 17-jährigen Michael-Karl Gaudier damals interessiert hat? Wohl eher nicht. Der Polizeianwärter sprintete lieber mit seinem frisierten Mofa in die Bienwald-Bier-Bar und verbrachte seine Feierabende Bier trinkend mit den drei Türken, die die damalige Kultbar führten.
Anders sein Freund Peter Bender. Der angehende Jurist verbrachte viel Zeit in Berg, wo er ein Mädchen kennengelernt hatte: Ingrid, die Tochter einer resoluten Hebamme und eines Zollbeamten. Peter wollte lieber mit Ingrid tanzen statt mit Michael biertrinken gehen. Als sich 1976 eine mobile Disko in der Kandeler Stadthalle ankündigte, fragte Peter höflich bei Ingrids Mutter an, ob er ihre Tochter zum Tanz ausführen dürfe.
Er durfte, doch als eine Art Anstandswauwau wurde dem jungen Paar Doris mitgegeben, Ingrids zwei Jahre jüngere Schwester. Die kecke 15-jährige war den Verliebten im Weg, aber sie konnten sie nicht einfach irgendwo stehen lassen. Daher fuhr Peter in die BB-Bar und überredete Michael, sein Bier stehen zu lassen und sich um den Teenager zu kümmern.
Es kostete Peter viele Argumente, um Michael vom Tresen zu lotsen, denn Disko war so überhaupt nicht seins. Doch die Freundschaft siegte und Michael stand kurz danach vor der Stadthalle und holte sich Doris ab. Tanzen wollte er nicht, aber er wollte mit ihr spazieren gehen und ein wenig unter der Friedenslinde sitzen, bis sie von ihren Eltern abgeholt wurde.
Dieser Freundschaftsdienst fiel ihm aber nicht ganz so schwer wie befürchtet. Das blitzgescheite Mädel gefiel ihm, er kam schnell mit Doris ins Gespräch und bewunderte ihre Ehrlichkeit und Spontanität. Dass sie blond, wohlgebaut und sehr hübsch war, nahm er dabei billigend in Kauf.
Was Peter und Ingrid in dieser Zeit getan haben, ist nicht weiter überliefert. Von Doris und Michael hingegen ist bekannt, dass sie sich an jenem Abend näher kamen und erste, zarte Küsse austauschten. Gleich am nächsten Tag trafen sie sich wieder.
Diese Beziehung, die unter der Kandeler Friedenslinde begann, stand unter einem guten Stern. Weder Doris noch Michael stellten sie jemals in Frage. Wenn überhaupt, war es die Mutter von Doris, die, als sie Michael kennenlernte, gesagt haben soll: „Was will denn der da?“ Ihr war der junge Mann zunächst nicht gut genug, doch Doris Vater, der Zollbeamte, betrachtete den angehenden Polizist als Kollegen und war daher mit ihm zufrieden. Schließlich ergab sich auch die Hebamme in ihr Schicksal: „Hauptsache, es ist keiner aus Scheibenhardt und keiner aus Hagenbach!“
Michael wurde in Lahr ausgebildet und so pendelte er mit seinem Mofa von nun an Jahr um Jahr von Berg nach Lahr und wieder zurück. Doris hingegen ließ sich zur Medizinisch-Technischen Assistentin ausbilden und fuhr täglich mit dem Zug von Berg nach Landau.
Trotz dieser anstrengenden Zeit blieben die beiden zusammen, bis Doris ihren Michael fragte, ob er sie nicht irgendwann einmal heiraten wolle. Er wollte und so gaben sie sich 1984 das Ja-Wort. Ihre Hochzeitsreise ging in die Schweiz, wo sie sich ihren ersten Entlebucher Sennenhund kauften und mit zurück nach Deutschland nahmen. Drei Jahre später kam Sohn Christoph zur Welt, weitere drei Jahre später Alexander.
Eben jener Entlebucher Sennenhund war es dann auch, der dem kleinen Alexander das Leben rettete, als er ihn nach Hundeart zum Spielen aufforderte. Alexander war drei Jahre alt gewesen, als ihn ein Auto anfuhr und lebensgefährlich verletzte. Der Junge lang im Koma, aus dem er einfach nicht erwachen wollte. Seine Familie nahm ihn mit nach Hause, wohl wissend, dass dies vielleicht das letzte Mal sein könnte. Doch Domar, der Sennenhund, wusste es besser. Er brachte dem Kind, das noch nicht einmal mehr in der Lage war, eigenständig zu sitzen, ein Quietschie und Alexander hielt dem Hund überraschend die Hand hin, um es zu nehmen. Das war der Durchbruch. Schon wenige Tage später konnte Michael mit seinem kleinen Sohn an der Hand seinen Ärzten erzählen, was er von ihren Prognosen und Behandlungen hielt.
Mittlerweile arbeitete Michael nicht mehr als Polizist, sondern machte sich mit einem Containerdienst selbstständig. Da weder er noch Doris die Arbeit scheuten, wuchs das kleine Unternehmen beständig und wird wohl demnächst an die Folgegeneration übergeben.
In all den Jahren besuchten Doris und Michael immer wieder die Friedenslinde, unter deren Blätter ihre Liebe begann. Sie feierten die Dorffeste mit, die auf dem Plätzel abgehalten wurde, besuchten die Weihnachts-, Künstler-, Floh- und Pflanzenmärkte und hielten den Frieden, für den die Linde stand.
Doch der Friedenslinde selbst ging es nicht gut. Sie hatte zwar den ersten und zweiten Weltkrieg überstanden, aber ihre Wurzeln wurden beide Male verletzt, als Arbeiter das Kopfsteinpflaster auf dem Plätzel erneuerten. Dann sprang der Brand eines Hauses auf die Linde über und verbrannte ihre Äste und Zweige. Wenige Jahre später kam ein Sturm auf, der ihren Stamm spaltete. So sehr sich die Kandeler auch bemühten, ihre Linde war nicht mehr zu retten.
Michael war dabei, als die Linde am 17. Februar 2022 gefällt wurde. Es war ein trauriger Tag, obwohl der Himmel leuchtend blau und kein Wölkchen in Sicht war. Als die Säge zum Todesschnitt angesetzt wurde, erschien ein Regenbogen am Himmel, was eigentlich unmöglich war, und den Michael deshalb zum Beweis fotografierte.
Als das Holz abtransportiert werden sollte, winkte Michael ab. Er konnte sich nicht von der Linde trennen. Also fuhr er selbst mit ihren Stämmen durch die Kandeler Hauptstraße in die Bartelsmühle, wo er das Holz ablegte, später pikierte und neue Triebe zog.
Doris und Michael sind mittlerweile 38 Jahre verheiratet. Ihre Liebe begann unter der Friedenslinde, aus deren Holz jetzt Künstler neue Werke schaffen werden. Und ganz bald einmal, vielleicht, wird ein kleiner Nachfahr der Friedenslinde auf dem Plätzel neu gesetzt werden können.